Am 16. Dezember verstarb überraschend mein früherer sehr geschätzter Kollege Heiko Steller im Alter von 63 Jahren, was nicht nur mich sehr traurig macht.
Heiko Steller wurde am 30. Oktober 1962 in Sachsen-Anhalt in eine Eisenbahnerfamilie geboren und wurde bei der DDR-Reichsbahn Fahrdienstleiter. Schon in der DDR hat er das Maul aufgemacht und vermutete, dass er eine Stasiakte hatte, was er aber bewusst nie nachgefragt hat, weil er nicht wissen wollte, wer ihn angeschwärzt hat. Nach der Wende wurde er Opfer der Poststasigesellschaft, da er weiterhin sein Maul aufgemacht hat, bei der Arbeit angeschwärzt und 2006 schließlich mehr oder weniger zu uns rübergeekelt wurde. Im Westen war seine Art allerdings sehr geschätzt und er war sehr beliebt bei Kollegen und sofern ich das beurteilen kann, auch bei Vorgesetzten, da er nicht nur eine ehrliche Haut war, sondern auch einen Superjob gemacht hat. Er hat Neulingen bei der Bahn stets geholfen und ihnen alles gesagt, was sie wissen mussten.
Ich erinnere mich noch an unsere erste Begegnung, als ich als Umschüler bei ihm war und er mit Füßen auf dem Tisch seinen Dienst verrichtete. Da er mir gegenüber schroff war, dachte ich mir „Was ist das denn für einer?!“ Aber gleich bei unserer zweiten Begegnung habe ich meine Meinung geändert und ihn zu schätzen gelernt. Auch diesen Tag werde ich nie vergessen. Am Morgen auf dem Weg zur Arbeit erreichte mich eine Hiobsbotschaft und ich habe Heiko gesagt, dass mich das sehr mitgenommen hat. Er zeigte Verständnis und fragte mich, ob ich nach Hause gehen möchte. Ich sagte ihm, dass, wenn es ihm recht wäre, ich lieber bleiben würde, da ich jetzt Ablenkung brauche. Er kam meiner Bitte nach und hat mich theoretisch geschult, da ich unter diesen Umständen keine sicherheitsrelevante Tätigkeit ausüben durfte.
Im Laufe der Umschulung stand er mir regelmäßig mit Rat und Tat zur Seite. Heiko war großer Fan des 1. FC Magdeburg und hatte auf dem Stellwerk eine Tasse seines Lieblingsvereins, die eines seiner Markenzeichen war. Wenn ich Leuten, die ihn nicht kannten, von ihm erzähle, nannte ich ihn oft „den Haudegen aus Sachsen-Anhalt“.
Als mir nach der Umschulung bei der Arbeit ein schwerer Fehler unterlief und ich Heiko davon erzählt habe, hat er diesen mit mir analysiert und mir gesagt, was ich hätte tun müssen. Da er nicht nur in dieser Situation sehr vorbildlich war, habe ich ihn für den Georg-Sagstetter-Preis nominiert, was er äußerst mürrisch angenommen hat, da er sein Handeln für selbstverständlich erachtete. Einige Zeit später waren wir beide unabhängig voneinander untauglich und haben zusammen in München gearbeitet. Dort hatten wir eine transsexuelle Kollegin, die leider nicht von allen Kollegen respektvoll behandelt wurde und Heiko (ich kannte sie schon vorher) fragte, ob er denn mit ihrer Transsexualität ein Problem habe. Er fragte auf seine schroffe Art, warum ihn das denn stören sollte. Sie sei ein anständiger Mensch und nur das zähle. Es spielte für Heiko keine Rolle, welche Hautfarbe, Religion oder Sexualität jemand hat. Wer in Ordnung war, war bei ihm willkommen und wer nicht, den hat er versucht, auf den richtigen Weg zu führen. Da ich bei der Bahn auch nicht immer gut behandelt wurde, sagte er mir auch einmal, dass er, wenn man ihm so mitspielen würde, er schon längst gekündigt hätte. Als jemand, der in der DDR den Mut hatte, offen Position zu beziehen, mir so etwas sagte, war das für mich ein großes Kompliment.
Den Preis erhielt er nicht und da ich nicht wusste, ob er seine dienstlichen Mails aufgemacht hat, bat ich seinen Bruder Andreas, ihm auszurichten, dass beim Preis jemand anderes den Vorzug erhielt. Andreas war total erstaunt, da Heiko ihm gar nichts von der Nominierung erzählt hat. Die Nominierung war für ihn vermutlich einfach nicht wichtig, da er aus seiner Sicht nur seine Arbeit gemacht hat. Später wollte ich ihn und Andreas dazu animieren, zusammen eine Liste für die Betriebsratswahl aufzumachen, da wir in diesem Gremium fähige Leute brauchen, die sich nicht nur für die Kollegen, sondern für die Bahn als Ganzes einsetzen. Leider konnte ich sie dafür nicht überzeugen, so dass ich mich selbst für die Wahl habe aufstellen lassen, aber nur einen hinteren Listenplatz erhielt. In den letzten Jahren wurde Heiko meinem ebenfalls sehr geschätzten Kollegen Gökhan Karaman und seiner Familie ein guter Freund und hat viel mit ihnen unternommen.
Für mich ist Heikos Vermächtnis, dass wir unser Maul aufmachen und nicht nur Position gegen Missstände beziehen, sondern auch konstruktive Gegenvorschläge machen müssen. Denn Heiko Steller hat nicht nur geschimpft, sondern auch stets versucht, Dinge zu verbessern und anderen zu helfen. Und daran sollten wir uns alle ein Beispiel nehmen.
Dann habe ich neulich den Film „ein Sonntag im Oktober“ über den Versuch Ungarns, sich aus dem Bündnis mit NS-Deutschland 1944 zu lösen, gesehen:
Ich kann diesen Film nur wärmstens empfehlen und auch, wenn ich nicht beurteilen kann, ob er 1:1 den historischen Tatsachen entspricht, zeigt er, wie Zögern in den Abgrund führt und man manchmal einfach den Pakt mit dem kleineren Übel eingehen muss. Auf der anderen Seite zeigt er aber auch die berechtigte Angst vor der Sowjetunion, weswegen viele der Protagonisten lieber im Bündnis mit NS-Deutschland blieben, was Ungarn letztendlich ins Verderben führte. Damals wollte Reichsverweser Miklos Horthy, den ich aber keinesfalls glorifizieren will, da er ein Autokrat der übelsten Sorte war und Ungarn in den Krieg führte, durch einen Pakt mit der Sowjetunion das Schlimmste für sein Land verhindern. Heute geht sein de facto Nachfolger Viktor Orban ohne Not ein informelles Bündnis mit Russland ein, wodurch Viktor Orban für mich noch schäbiger als Miklos Horthy ist.
Ich habe mir vorhin noch überlegt, was wäre, wenn es 1944 in Ungarn mehr Menschen wie Heiko Steller gegeben hätte. Heiko hätte damals nicht gezögert und das kleinere Übel gewählt, um Schaden von seinem Heimatland abzuwenden. Er hätte die Bevölkerung und die Armee auf seine Seite gezogen und dafür gesorgt, dass man gemeinsam die Nazis aus Ungarn vertrieben, sich selbst befreit hätte und damit nicht auf die Rote Armee angewiesen wäre. Er hätte Budapest gerettet und Ungarn vor dem Verderben bewahrt.
Es bedarf heute – nicht nur in Ungarn und Deutschland und nicht nur bei der DB – Menschen wie Heiko Steller. Auch wenn er es wohl nie ein Geschichtsbuch schaffen wird, stand Heiko auf der richtigen Seite. Ich werde mich an ihm orientieren und auf meine Art versuchen, Schaden von meinem Land abzuwenden. Bitte folgt diesem Beispiel!
Marcel Kunz